„Zugang“ / «Доступ», Goethe-Institut Moskau, 20.11.2010

Am 20. November von 17:00-19:00 Uhr MEZ (19:00-21:00 Uhr Moskauer Zeit, im Strelka-Institut, Zugang nur mit persönlicher Einladung) veranstaltet das Goethe-Institut Moskau unter dem Titel “Zugang” eine Diskussion zu den Themen Netzpolitik, Kultur-Flatrate, Lizenzmodelle, Open Access und Creative Commons. Es diskutieren von russischer Seite: Ivan Sassurski, Chefredakteur der Online-Zeitung Tschastnyj korrespondent, Anton Merkurow, Journalist und Internetexperte, Michail Fedotow, Sekretär des Journalistenverbandes Russlands, Autor des heutigen russischen Mediengesetzes und  von deutscher Seite: Markus Beckedahl, Netzpolitik.org, Sascha Kösch, Chefredakteur der Zeitschrift de:bug und ich. Der Moderator ist Aleksandr Pljuschtschew. Im Anschluss legen zwei Netaudio-DJs auf: DJ Aleksandar Janeski alias Psychoded und Sasha Khizhnyakov alias DJ Sascha Mix.

Die Videoaufzeichnung der Diskussion ist jetzt online. Außerdem hat das Goethe-Institut aus diesem Anlass das Webdossier „Digitale Gesellschaft: Zugang“ veröffentlicht. Mein Beitrag darin: RU: Лицензия на файлообмен и новый общественный договор в сфере культуры, DE: Die Sharing Licence und der neue kulturelle Sozialvertrag.

Nachtrag

Die Diskussion war sehr angeregt und engagiert. Sie zeigte, dass das Internet uns überall vor die gleichen Fragen stellt, ob in Russland, Deutschland oder Brasilien.

Mit dem marktbeherrschenden ISP Ekan sei das Internet in Russland Privateigentum, sagte Michail Fedotow. Die Antwort darauf müsse eine internationale Regulierung sein. Der Unternehmensberater Aleksandr Milizki hielt dagegen, dass die Provider-Konkurrenz funktioniere. 13% der Haushalte seien mit Glasfaser angeschlossen. Auch in Ortschaften mit bis zu 500 Einwohnern sei ein kollektiver Zugang gewährleistet. Das seit kurzem in Finland kodifizierte Grundrecht auf Zugang zum Internet wurde angesprochen. Zugang ist auch Teil des brasilianischen Gesetzentwurfs für einen Grundrechtekatalog im Internet, dem Marco Civil (hier in englischer Übersetzung). Dem prinzipiellen Recht sollen praktische Taten folgen: Das brasilianische Telekommunikations-Ministerium hat einen Nationalen Breitbandplan bis 2014 gestartet. Darin heißt es, in der Wissensökonomie sei Breitband-Zugang zum Internet essentiell für die Entwicklung und die Wettbewerbsfähigkeit des Landes. Auch in Russland gibt es ein nationales Programm für die Informationsgesellschaft. Ein Viertel seines Etats, hieß es, ginge jedoch an die Sicherheitsdienste.

Der junge Duma-Abgeordnete Robert Schlegel von der Putin-Partei Edina Russia konstatierte Mängel im politischen System: Eine Mitwirkung der Bürger bei der Gesetzgebung sei nicht gegeben. Die Bürokraten seien selbst offline, aber verantwortlich für die Regulierung des Internet. Der im Post-Sowjet-Russland und im Internet-Zeitalter gross gewordene Schlegel, wie einige andere im Saal mit einem iPad auf dem Schoss, hat ohne Frage digitale Kompetenzen, was ihn aber, wie der Spiegel berichtete, nicht davon abhält, an einem Gesetz zur Einführung einer persönlichen Kennung für alle Internet-Nutzer zu arbeiten.

Auch Anton Merkurow sieht es als strukturelles Problem, dass die Zivilgesellschaft nicht an der Regulierung des Internet beteiligt ist. Zu unserm Hauptthema Urheberrechte wagte er die These, Künstler müssten hungrig sein.

Filesharing ist in Russland an der Tagesordnung, ebenso wie die nicht autorisierte Verbreitung jeglicher Werke über CDs und DVDs. In VKontakte.ru, dem mit nach eigenen Angaben über 60 Millionen Nutzern größten sozialen Netzwerk Russlands werden, ähnlich wie im brasilianischen Orkut, Kinofilme, Musik und anderes getauscht, was VKontakte bereits eine Reihe von Prozessen eingebracht hat.

Fedotow, Medienminister unter Jelzin, Autor des heutigen Mediengesetzes und Mitwirkender bei dessen aktueller Reform, will Freiheiten erhalten, sieht aber die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs für Autoren. Die Kultur-Flatrate oder Sharing Licence, wie sie in Brasilien heißt, traf in der Debatte auf einige Zustimmung. Ein Problem, wie überall, sind die existierenden Verwertungsgesellschaften. Sie blicken auf eine ehrwürdige Tradition zurück, seit Puschkin die Schriftsteller organisierte. Heute sind sie weder bei Kreativen noch bei Veranstaltern oder Bürgern gut glitten. Seit einem Monat gilt eine Pauschalvergütung von einem Prozent auf alle Datenträger, ohne dass mit der Umsetzung schon Erfahrungen gesammelt worden wären.

Fedotow ging jedoch noch weiter. Er verwies auf ein Buch des Mitarbeiters des dänischen Kulturministeriums Willi Weincke, der darin 1976 die Nationalisierung von Urheberrechten vorschlug, so wie es, erinnert Fedotow, die Bolschewiki 1917 in Russland getan hatten.

Umgekehrt reagieren viele russische Bands auf Filesharing, indem sie ihre Alben selbst ins Web stellen und zu freiwilligen Zahlungen per SMS auffordern und auf Werbeeffekte für ihre Konzerte setzen. So gehen die Reaktionen auf das Internet auch hierzulande über das ganze Spektrum von pragmatischen Do-it-yourself Ansätzen über Soft-Law wie die von der UNESCO vertretene Informationsethik bis zur Forderung nach strengen Gesetzen. Einige Diskussionsteilnehmer sahen für das internationale Internet nur eine Regelung auf internationaler Ebene als sinnvoll. Das gerade finalisierte Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) wirft allerdings erhebliche Zweifel auf, ob auf dieser Ebene die geforderte Bürgerbeteiligung und das öffentliche Interesse eine Rolle spielen.

Zum wichtigen Thema Netzneutralität sind wir in der Diskussion leider nicht mehr gekommen. Deshalb hier der Hinweis auf den gestern im Scientific American veröffentlichten Text von Tim Berners-Lee: Long Live the Web: A Call for Continued Open Standards and Neutrality.

Zum Schluss der Diskussion ging es dann noch um Zensur. Beim Stadtrundgang am Nachmittag hatte uns die junge Mitarbeiterin des Goethe-Instituts Diana Morinowa erläutert, dass die Kirche am Ende des roten Platzes den Spitznamen “Basilius-Kirche” trage. Basilius war einer der “Gottesnarren”, die im alten Russland großes Ansehen genossen und den Mächtigen bis hin zu Zaren ohne Angst vor Repression alles sagen durften. In einem Land, in dem kritische Journalisten damit rechnen müssen, mit Baseball-Schlägern malträtiert zu werden, würde man sich eine Rückbesinnung auf zaristische Narrenfreiheiten wünschen. Der deutsche Volksmund ehrt sie mit der Weisheit: “Kinder und Narren sagen immer die Wahrheit.”Und Goethe, in dessen Namen wir hier zusammengekommen sind, wusste: “Der Schauspieler, Musikus, Maler, Dichter, ja der Gelehrte selbst erscheinen mit ihren wunderlichen, halbideellen halbsinnlichen Wesen jener ganzen Masse der aus dem Reellen entsprungenen und an das Reelle gebundenen Weltmenschen wie eine Art von Narren.”Also alle Kreativen. Wenn die Debatte ein bisschen dazu beigetragen hat, das Narrenschiff Internet aus dem Beschuss zu nehmen und ihm die notwendige Freiheit zu sichern, war sie ein Erfolg.

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