AnimCoverVom Animismus zur Animation

Anmerkungen zur Künstlichen Intelligenz

Volker Grassmuck

Sammlung Junius
Hamburg 1988
ISBN 3-88506-404-9

272 Seiten, illustriert, gebunden, mit Lesebändchen
DM 24,80, verramscht, daher wohlfeil in modernen Antiquariaten zu erstehen

Formale Systeme, Mathematik, Sprache, Wissen und das Projekt der Überwindung des Todes durch Technik treffen in der Künstlichen Intelligenz aufeinander, der Wissenschaft, die den Computer dazu bringen will, sich wie ein denkender Mensch zu verhalten.  Der vorliegende Text legt Schnitte durch die konvergierenden Entwicklungen.

Die Informationsgesellschaft führt zu Veränderungen im Diskurs über den Menschen.  Der Autor versucht, darin Muster und Spielregeln ausfindig zu machen, z. B. die Kombinatorik, die Universalität, den Zufall.  Er benutzt dazu Metaphern, wie die vom Menschen als Maschine und die von der Maschine als Mensch.

Letztlich fördert die Auseinandersetzung mit der Selbstmaschinisierung eine Provokation zu Tage.  Wenn wir nicht werden wollen, wie die Zerrbilder unserer selbst, die die Medien und die KI uns vorhalten, müssen wir uns Gedanken über unser Menschsein machen.

Inhalt

Vorab

I. Einleitung
Zwei Gespräche
Dialog über Haupt

Kapitel II. WISSEN
1. Genealogie der Wissensformen
2. Todesangst und die Dialektik von Mythos und Individuum
3. Maschine und »subjektive Vernunft«
4. Die Vernunft mit der Narrenkappe
5. Das kybernetische Paradigma der Information
6. Hyperinformation

Kapitel III. MASCHINEN
1. Spiegelung und Medium
2. Projektion und Mimikry
3. Sprache und Seele
4. Melancholie oder Der Diskurs vom Menschen als Maschine
5. Siamesische Zwillinge
6. Lingua Universalis
7. Bio-graphisches aus der Medizin
8. Ins Paradies
9. Zwischenwelten mit Schnittstellen

Kapitel IV. MASCHINENWISSEN
1. Ununterscheidbar – Der Turing-Test
2. Die Turing-Maschine
3. Alles oder Nichts – Die Universelle Turing-Maschine
4. Von Neumann und ‘Non-Von’
5. Intelligenz, künstlich
6. Wissensrepräsentation und Expertensysteme
7. Verarbeitung natürlicher Sprache
8. Simulation
9. Das Netz
10. real time
11. Zufall und Unfall
12. Artificial Realities

V. ABAKUS

Anmerkungen
Bibliographie
Bildnachweis

Vorab

Grau und häßlich sitzt vor mir das tapfere Schneiderlein.(1) Da hast du dich also mit der Anmaßung deiner Macht gegürtet, hast treuherzig der Welt den kleinen Sieg eines biederen Schneiders kundgetan und dich aufgeplustert. Und die Welt mißversteht–als Komplement dazu–in ihrer Gewaltlogik die Bedeutung deiner Worte. Am Anfang deines Siegeszuges stand also die Schrift in ihrer Differenz zur Tat. Weil die Rede gegen die Natur versagte (»Die Fliegen aber, die kein Deutsch verstanden … «), hast du deine Vormacht mit Gewalt behauptet. Mit der Aufschrift auf deinen Körper hast du dich zur Kultur erhoben, die durch List immer wieder Riesen, Einhorn und Wildschwein besiegt.

Doch deine Stellung unter den Menschen beruht auf der Wirkung der Schrift allein. Schlafend, also ohne Rede und Tat, wardst du zur Litfaßsäule deines »Siebene auf einen Streich«. Und da Herrschaft sich schon immer gern die überlegene Gewalt an ihre Seite holte –wenn auch mit der Ahnung, daß die Unterwerfung zuweilen nicht gelingt (»Der König wäre ihn gern wieder los gewesen«)–ward dir Erfolg beschieden.

Noch ist deine Stellung bedroht. In der Hoffnung auf deinen Tod schickt der König dich in den Kampf mit dem Einhorn. Es hat seiner Herrschaft schon viel Schaden angerichtet. Weil es spürt, daß du, der Schneider, ihm den Garaus machen willst, springt das Einhorn ungestüm auf dich los. Erst bietest du dich zum Opfer dar, dann weichst du geschickt aus. Das Horn verfehlt sein Ziel. Sein eigener Angriff setzt das Einhorn gefangen. Da ist es dir ein leichtes, es zu binden, das Horn mit der Axt aus dem Baum zu schlagen und es gefesselt und entzaubert in den Stall des Königs zu führen.

So hast du dir denn durch das Gewaltbegehren der Lesenden und trotz deiner niederen Herkunft die Hälfte des Königreichs (und meines Schreibtisches) erobert. Die andere Hälfte des Himmels gehört nicht dir noch dem senilen König zu. Das lachende Einhorn, das noch in deinen unterirdischen Verliesen die Wiederverzauberung bewirkt, wird es sich nehmen.

I. Einleitung

Zwei Gespräche

Der Prophet Jeremia beschäftigte sich allein mit dem Buch Jezira. Da erging eine himmlische Stimme und sprach: Erwirb dir einen Genossen. Er ging zu seinem Sohn Sira, und sie studierten das Buch drei Jahre lang. Danach gingen sie daran, die Alphabete nach den kabbalistischen Prinzipien der Kombination, Zusammenfassung und Wortbildung zu kombinieren, und es wurde ihnen ein Mensch geschaffen, auf dessen Stirne stand: JHWH Elohim Emeth. Es war aber ein Messer in der Hand jenes neuerschaffenen Menschen, mit dem er das ‘aleph von ’emeth auslöschte; da blieb: meth. Da zerriß Jeremia seine Kleider [wegen der hierdurch implizierten Blasphemie der Inschrift: Gott der Herr ist tot! Anm. G. Scholem] und sagte: Warum löschst du das ‘aleph von ’emeth aus? Er antwortete: Ich will dir ein Gleichnis erzählen. Ein Architekt baute viele Häuser, Städte und Plätze, aber niemand konnte ihm seine Kunst abmerken und es mit seinem Wissen und seiner Handfertigkeit aufnehmen, bis ihn zwei Leute überredeten. Da lehrte er sie das Geheimnis seiner Kunst, und sie wußten nun aües auf die richtige Weise. Als sie sein Geheimnis und seine Fähigkeiten erlernt hatten, begannen sie ihn mit Worten zu ärgern, bis sie sich von ihm trennten und Architekten wie er wurden, nur daß sie alles, wofür er einen Taler nahm, für sechs Groschen machten. Als die Leute das merkten, hörten sie auf, den Künstler zu ehren, und kamen zu ihnen und ehrten sie und gaben ihnen Aufträge, wenn sie einen Bau brauchten. So hat euch Gott in seinem Bilde und seiner Gestalt und Form geschaffen. Nun aber, wo ihr, wie Er, einen Menschen erschaffen habt, wird man sagen: Es ist kein Gott in dieser Welt außer diesen beiden! Da sagteJeremia: Welchen Ausweg gibt es also? Er sagte: Schreibt die Alphabete von hinten nach vorn in jene Erde, die ihr mit gesammelter Konzentration hingestreut habt. Nur meditiert nicht über sie in Richtung des Aufbaus, sondern vielmehr umgekehrt. So taten sie, und jener Mensch wurde vor ihren Augen zu Staub und Asche. Da sagte Jeremia: Wahrlich, man sollte diese Dinge nur studieren, um die Kraft und Allmacht des Schöpfers dieser Welt zu erkennen, aber nicht, um sie wirklich zu vollziehen.«(2)

Dialog über Haupt

Zeitgeistesgegenwart heißt, am Rande lesen, Blicke aus dem Augenwinkel werfen, die Peripherie zum Zentrum der Aufmerksamkeit machen, sich verführen, sich auf Abwege führen lassen. Da nichts mehr mit gutem Grund als Zentrum (z. B. des wissenschaftlichen Interesses) deklariert werden könnte, gibt es ohnehin nur noch Abseitiges. Nur so, nur bei müder Abwesenheit, sieht man das Wandern des Kathodenstrahls und nicht das vermeintlich ruhig stehende Bild. Dabei geht es nicht um einen neuen Blick in die Tiefe, hinter die bloße Erscheinung der Dinge. Die aufblinkenden Punkte bilden ja gerade die reine Oberfläche. Nur am Rande, nämlich in den Danksagungen diverser neuerer Bücher, findet man Anzeichen für Veränderungen, die Inhalt wie Produktionsform auch der vorliegenden Arbeit betreffen. Immer häufiger erwähnen Autoren dort nicht nur ihre Sekretärin und die liebe Verwandtschaft, sondern auch namentlich ihr Textverarbeitungsprogramm.(3)

Den Computern unter meinen Lesern wird das nicht einmal ein Schulterzucken der Genugtuung entlocken. Den anderen, auf altmodischem Kohlenstoff basierenden, sollte diese Art der Anthropologisierung von Maschinen zu denken geben.

Der künstliche Mensch aus dem 13. Jahrhundert und der aus dem 20. setzen–mit ihren eigenen Worten–die Eckpunkte des Themas. Mit >emeth< (Wahrheit) und >meth< (Tod), zugleich Signifikanten und Signifikate, sind die Determinanten ausgesprochen, die auf immer mit dem Projekt verbunden bleiben. Eckpunkte, aber nicht als historistische Anfangs- und Endpunkte, sondern als Grenzmarken eines Noch-nicht und eines Nicht-mehr, die in die Zeit projiziert werden, die aber an jedem einzelnen Raum-Zeit-Punkt wirksam bleiben, wie Vorahnung und Nachgeschmack, wie Traum und das Erwachen im Schlaf zu einem anderen Traum.

Das Thema ist ein theologisches. Das wissen beide, wenn es auch nur der eine ausspricht. Mytho-Logos wie Techno-Logos sind Weltschöpfungskraft, sind das leibhaftig gewordene, göttliche Wort.

Der Mensch ist wesentlich Autor. Er nimmt sich selbst als Ur-Sache, und indem er sich kopiert, wähnt er, sein eigener Urheber zu sein. Weil der künstliche Mensch ihn vom Makel des Gewordenseins (G. Anders) befreit, ist dieser allein Ziel jeder >Selbsterhaltung< und letztgültiger Beweis seiner Apotheose.

Die beiden sprechen also auch über sieben Jahrhunderte und über die Köpfe der angesprochenen Menschen hinweg miteinander. Ohne mich einmischen zu wollen, glaube ich, daß sie sich genau verstehen. Die Isomorphie zwischen mythischem und technischem Text läßt vermuten, daß beiden etwas Gemeinsames zugrundeliegt, ein ROM im untersten Teil unseres Arbeitsspeichers gewissermaßen.

Eine solche Klammer oder Durchlauf-Figur soll im folgenden immer wieder versucht werden. Aus dem kreisförmigen Drumherumreden — wobei der Radius sich aus den beiden Vorgaben errechnet–ergibt sich der Aufbau eines Amphitheaters. Eingezirkelt wird das leere Zentrum. Die Bänke sind voll besetzt, doch jeder erwartet etwas anderes: ein grandioses Schauspiel — Parabel oder Tragödie — der eine, der andere einen Wettkampf auf Leben und Tod.

Wenn die Künstliche Intelligenz (KI) denn im Zentrum der Uberlegungen steht, so in dem Sinne, wie im Labyrinth die Leere des Zentrums durch einen Springbrunnen oder eine Statue ausgefüllt wird, die kein Geheimnis bergen. Der Reiz liegt im Weg. Keine andere Techno-Form trägt in dem Maße das Labyrinth in sich wie die >K & I<-Technologien — als Metapher und als Anwendung, vergleichbar nur mit der Wissensmaschine Bibliothek. Das Lab,vrinthische war vormals in der Natur angesiedelt, im Körper, im Spiel. Dem stand die Klarheit und Abwägbarkeit der Maschine gegenüber. Mit dem Computer kehrt das Symbol des Rätsels, des mythischen Durchgangs und der Wiederkehr inmitten der vollständig determinierten Maschine wieder; eine Architektur zu weiblichen Ehren (Urmutter, Aphrodite, Artemis, Persephone) inmitten männlicher Technologie.(4)

Nach der Klassifizierung, die Eco vornimmt,(5) handelt es sich hierbei um rhizomatische Labyrinthe, da sie potentiell unendlich sind und da sie ihren Benutzer unmittelbar zu der Erkenntnis des Satzes führen, »daß es unmöglich ist, nur eine Geschichte zu haben«, Labyrinthe also, die sich auch in der Zeit erstrecken. (Am augenfälligsten beim Computerspiel »Time Zone«, das dem Benutzer die Versatzstücke der Geschichte als Material zur Neugestaltung präsentiert).

Explizite Labyrinthe finden sich bei Spielen, Text-Adventures und Environments.(6) In die Computer-Spiele ist das Labyrinth als Grundstruktur eingegangen. Es erschließt sich dadurch, daß man sich in ihm bewegt. Die Perspektive ist also die der Maus, nicht die des Versuchsleiters, der sich über sein Experiment beugt. Im Labyrinth lauern Gefahren, Aufgaben sind zu bewältigen, Puzzleteile zusammenzutragen. Als unverzichtbares Klischee scheint sich die Hauptaufgabe des Spielers herausgebildet zu haben, die Menschheit vor der Vernichtung durch das Böse, vor der Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes zu bewahren.

Die menschengemachte, unüberschaubar verzweigte Struktur des Labyrinths zeigt sich auch in Netzen und Systemen, die eine gewisse Größe überschritten haben. Durch die entlegenen Gänge eines Frühwarnsystems bspw. kann, nach eigenem Bekunden des amerikanischen Verteidigungsministeriums, kein Mensch mehr einen roten Faden legen. »You’ve found your way in. But is there a way out?«(7)

Fußnoten

1. Schneider is a registered trademark of Schneider Rundfunkwerke, Germany, und der Vertrieb des Amstrad-Computers, auf dem dieses Buch geschrieben wurde. Vgl. weiterhin Gebrüder Grimm.
2. Pseudepigraphon, Languedoc, Anfang des 13. Jahrhunderts, vermutlich von Juda ben Bathyra nach: Scholem: 234f.
3. Z. B. W. Coy, M. Horx
4. Vgl. Kerenyi
5. Eco: 66
6. Vgl.Krueger
7. »Hacker«, Computerspiel von Activison, 1985

By vgrass

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